Wo steht Valérie Dittli wirklich? Sie war Mitglied bei einer Organisation für und einer gegen das Rahmenabkommen mit der EU

Völlig überraschend hat die Präsidentin der Waadtländer Mitte Chancen, in die Kantonsregierung einzuziehen. Ihre politische Positionierung wirft aber Fragen auf.

Antonio Fumagalli, Lausanne
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Die Überraschungsfrau des ersten Wahlgangs bei den Waadtländer Regierungswahlen: die Mitte-Präsidentin Valérie Dittli.

Die Überraschungsfrau des ersten Wahlgangs bei den Waadtländer Regierungswahlen: die Mitte-Präsidentin Valérie Dittli.

Jean-Christophe Bott / Keystone

Sie war – zusammen mit der auf Anhieb im Amt bestätigten Christelle Luisier – der Star des Waadtländer Wahlsonntags: Valérie Dittli, die Präsidentin der Mitte Waadt. Noch vor wenigen Monaten kannte sie im Kanton kaum jemand, nun erzielte sie zur allgemeinen Überraschung das siebtbeste Resultat aller Kandidaten und landete im ersten Wahlgang noch vor einer amtierenden Staatsrätin. Ihre Teilnahme an der bürgerlichen «Alliance vaudoise» hat sich zumindest fürs Erste ausbezahlt.

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Doch wo steht Dittli politisch eigentlich? Recherchen bringen nun Erstaunliches zutage: Die gebürtige Zugerin war nämlich sowohl bei Autonomiesuisse wie bei Progresuisse Mitglied. Beide Organisationen befassen sich mit der Europapolitik der Schweiz, weisen inhaltlich aber fundamentale Unterschiede auf. Lorenz Furrer, Mitinitiant von Progresuisse, sagt: «Mit Autonomiesuisse haben wir nichts zu tun – wir sind die Antwort darauf.»

«Konsternation» – oder «neue Perspektiven»

Progresuisse war für, Autonomiesuisse gegen den Rahmenvertrag mit der EU, bevor ihn der Bundesrat im Mai 2021 beerdigte. Als der damalige Bundespräsident Guy Parmelin einen guten Monat zuvor nach Brüssel reiste, gaben ihm die Skeptiker folgende Botschaft mit auf den Weg: «Das Verhandlungsergebnis erfüllt die Anforderungen von Autonomiesuisse in keinem wesentlichen Punkt. Der Bundesrat soll der EU klar mitteilen, dass er das vorliegende Abkommen nicht weiterverfolgen kann.»

Progresuisse hingegen schrieb damals: «Zur Wahrung der Interessen der Schweiz in Europa ist der bilaterale Weg der goldene Mittelweg, den es zu festigen und weiterzuentwickeln gilt. Denn kein Rahmenvertrag ist für die Schweiz keine Option.» Nachdem der Bundesrat schliesslich den Verhandlungsabbruch bekanntgegeben hatte, nahm Progresuisse den Entscheid «mit Konsternation zur Kenntnis». Autonomiesuisse hingegen begrüsste ihn ausdrücklich und freute sich über die «neuen Perspektiven», die sich dadurch eröffneten.

«Es war unvorsichtig von mir»

Der Name Valérie Dittli ist auf der Website von Autonomiesuisse mittlerweile nicht mehr zu finden. Bis vor kurzem figurierte sie dort – neben knapp zwei Dutzend anderen Personen – aber noch als «Co-Präsidentin». Gemäss dem Initianten der Gruppierung, Hans-Jörg Bertschi, müssen alle Mitglieder des Co-Präsidiums «selbstverständlich dazu einwilligen».

Dittlis Aussagen widersprechen sich teilweise. Bereits gutgeheissene Zitate zog sie später zurück und fügte neue Elemente hinzu. Die nun autorisierte Version ist folgende: Gleichzeitig mit dem Präsidium der Mitte Waadt habe sie verschiedene Aufgaben ihrer Vorgängerin übernommen, darunter jene bei Autonomiesuisse. Einmal habe sie an einer Informationsveranstaltung teilgenommen. Der erste Kontakt mit Autonomiesuisse sei aber gleichzeitig der letzte gewesen, so die Mitte-Präsidentin. «Ich habe danach umgehend meinen Austritt gegeben, denn deren Ziele sind nicht mit meinen politischen Überzeugungen vereinbar. Es war unvorsichtig von mir, nicht nachzuprüfen, ob dies auch auf der Website so gelöscht wurde.»

Cassis und Pro Tell

Den Austritt bei Autonomiesuisse habe sie Anfang Januar 2021 telefonisch kundgetan, sagt Dittli. In einer Medienmitteilung von April 2021 war sie allerdings weiterhin als Co-Präsidentin von Autonomiesuisse aufgeführt. Der Gründervater Bertschi hingegen sagt gar, dass sich Dittli erst unlängst gemeldet habe. «Vor drei, vier Wochen» habe man die Sache dann im Lenkungsausschuss diskutiert und Dittlis Namen in der Folge von der Liste entfernt. Solche Änderungen gebe es «immer wieder einmal».

Der Fall erinnert an die Polemik von Herbst 2017 rund um Ignazio Cassis: Kurz vor seiner Wahl in den Bundesrat war der Tessiner der Waffenlobby-Organisation Pro Tell beigetreten – und kündigte die Mitgliedschaft einen Monat später «aufgrund der öffentlichen Diskussion und der Instrumentalisierung des Beitritts» wieder.

Überraschend im zweiten Wahlgang

Bei Progresuisse ist Dittli weiterhin und mitsamt persönlichem Statement im Komitee aufgeführt – als eine von 280 Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft. Laut der Geschäftsstelle ist sie am 17. Februar 2021 beigetreten. Obwohl sie gegenüber dem damals vorliegenden Rahmenvertrag Vorbehalte hatte, bereitet ihr diese Funktion offenbar keine Probleme: «Ich bin Mitglied von Progresuisse, weil ich überzeugt bin, dass die Schweiz stabile bilaterale Beziehungen mit der EU braucht», sagt sie.

In welcher Funktion und in welchem Ausmass Dittli auch immer für die beiden Organisationen aktiv war: Wie erklärt sie, dass sie gleichzeitig oder zumindest in kurz aufeinanderfolgenden Zeitspannen bei zwei Organisationen Mitglied war, welche die zentrale Frage des Rahmenabkommens diametral anders beurteilen? Ihre Antwort darauf hat Dittli ebenfalls zurückgezogen.

Vorderhand muss sich die 29-Jährige ohnehin mit den handfesteren Themen der Kantonspolitik befassen, es geht um die Steuerbelastung, das Schulwesen oder den Ausbau des öffentlichen Verkehrs. Aufgrund ihres guten Abschneidens im ersten Wahlgang tritt Dittli auch im zweiten an – damit ist im Vorfeld nicht gerechnet worden. Die Entscheidung fällt am 10. April.

Progresuisse wird auf Eis gelegt

fum. Wohin die Reise in der Europapolitik geht, ist derzeit nicht absehbar. Darum wird die Organisation Progresuisse, die in letzter Zeit ohnehin kaum mehr in Erscheinung getreten ist, vorläufig auf Eis gelegt. Die knapp 300 Sympathisanten, die sich mit einem Statement auf der Website zitieren lassen haben, erhalten dieser Tage ein entsprechendes Schreiben von der Geschäftsstelle. «Da wir Progresuisse nicht als Policy Maker verstehen, sondern als Stimme der Wirtschaft und der Wissenschaft für stabile Beziehungen mit der EU, sehen wir derzeit keine Mission für Progresuisse. Wir möchten darum Progresuisse für den Moment pausieren lassen», heisst es darin. Sobald eine klare Zielsetzung zur Debatte stehe, werde man sich neu neu formieren und wieder aktiv werden.